Produktion des Theaters Regensburg, deutschsprachige Erstaufführung
Gastspiel Deutsches Theater München, 9. und 11. Juli 2025 (besuchte Vorstellungen)

Zum Stück (Pressetext:)
11.9.2001, 09:45 Uhr. Der nordamerikanische Luftraum wird zum ersten Mal in der Geschichte geschlossen. Die Hälfte der fast 500 Flüge in die USA mussten umkehren. Die restlichen 255 wurden zu kanadischen Flughäfen umgeleitet. 38 davon nach Gander, Neufundland, Kanada. Nur eine halbe Stunde später landete das erste Flugzeug. Drei Kommandozentren, in Kanada verteilt, stellten sicher, dass jeder Flug zu einem sicheren Landeplatz geleitet wird. Dieses, als „Operation Yellow Ribbon“ bezeichnete Unterfangen diente dazu, sicherzustellen, dass keine potenziell gefährlichen Flugzeuge mehr unterwegs sind.
So mussten nun binnen weniger Stunden über 6500, am Gander Airport gestrandete Personen in einer gerade mal 9000 Einwohner fassenden Gegend untergebracht und versorgt werden. Viele dieser Passagiere waren schon viele Stunden im Flugzeug unterwegs und mussten nun fast einen kompletten Tag weiter im Flieger ausharren, bis die Behörden das Go zum Verlassen gaben.

Auf diesen noch nie dagewesenen Ausnahmezustand reagierten die Einwohner mit unvergleichlicher Solidarität. Fast jeder packte, wie selbstverständlich, mit an. Schulen, Turnhallen und Kirchen wurden zu Schlafsälen umfunktioniert. Die lokalen Läden stellten Nahrung zur Verfügung, die Busfahrer unterbrachen ihren Streik, um die Ankömmlinge zu fahren und die Einheimischen spendeten Kleidung, stellten ihre Duschen zur Verfügung und beherbergten teilweise selbst gestrandete Passagiere in ihren Wohnungen. So wurde mit gemeinsamer Kraft über die nächsten fünf Tage dafür gesorgt, dass der ungeplante Aufenthalt der „come from aways“, wie die Bevölkerung die Gestrandeten liebevoll nannte, möglichst reibungslos und angenehm verlief.
Dieses herzliche und selbstlose Vorgehen der Einwohner sorgte für eine tiefe Verbundenheit, welche die Passagiere und die Einheimischen gleichermaßen prägte. Man war fast traurig, als der Flugverkehr wieder aufgenommen wurde und die Menschen ihre Reise fortsetzen konnten. Oder um Claude Elliott, den damaligen Bürgermeister von Gander, zu zitieren: „Es war, als wenn man einen Großteil seiner Familie verloren hätte.“

Wie macht man aus dieser zu Herzen gehenden, wahren Geschichte ein Musical? Irene Sankoff und David Hein haben es gewagt, viel Herzblut investiert, unzählige Gespräche mit den damaligen Passagieren und den Bewohnern von Gander geführt. Und 2015 ein Stück neue Musicalgeschichte etabliert: Es gibt keine Stars in Hauptrollen, keine pompösen Kulissen, keine Pause, dafür rasante Figuren- und Szenenwechsel.

Die Geschichte ist der Star, das Ensemble – jeder Einzelne – transportiert in mehreren Charakteren in stringentem Tempo das Geschehen, in Sekundenschnelle switchen die Darstellenden die Figuren. Auf der Bühne nur ein paar Stühle, die blitzschnell so angeordnet werden, dass man sich in einer Kneipe wähnt, mitten im Flieger mit Flugzeugsitzen, in einem Bus mit den dahinterliegenden Sitzreihen.
Die geniale Lichtregie und die wunderbare Partitur mit Folk-, Pop- und Rockanleihen sorgen dafür, dass man sofort in die Geschehnisse gezogen wird, fast automatisch.

Rote, im Halbrund der hinteren Bühne hoch aufragende Stahlträger assoziieren beklemmend die übriggebliebenen Gerippe der ehemaligen Türme des New Yorker World Trade Center.

„Welcome to the Rock“ in Anspielung auf das felsige und karge Habitat in Neufundland ist das musikalische Leitthema und geht sofort ins Ohr und verfestigt sich dort auch aufgrund der Reprisen.
Der bekannteste Name im Ensemble ist Andreas Bieber, seit über 30 Jahren feste Größe im Musical- und Konzertbereich mit großer Bühnenpräsenz. Als Kevin T. strandet er zusammen mit seinem Mann als Passagier in Gander. Nach den ereignisreichen Tagen dort geht das Paar getrennte Wege.
Weiterhin verleiht er dem Busfahrer Garth lebendige Kontur, der kurz vor 9/11 als Gewerkschaftsführer in Gander einen Streik seiner Kollegen leitet – und diesen aufgrund der außergewöhnlichen Situation natürlich unterbricht, um die Flugpassagiere zu transportieren.

Bürgermeister Claude (Benedikt Eder) bemüht sich, alles im Griff zu haben, auf nette, unkomplizierte Weise. Es darf selbstverständlich auch ordentlich gefeiert werden.

Wietske van Tongeren verkörpert beeindruckend die Flugkapitänin Beverly Bass der American Airlines. Sie bewahrt Ruhe, was sich positiv auf die höchst verunsicherten Passagiere auswirkt in den 28 Stunden, in welchen die Menschen in der Maschine ausharren müssen und keine Ahnung davon haben, was vorgeht. Ihr mehrfaches „Es geht mir gut“ an Mann und Kinder zuhause, als sie endlich an ein Telefon gelangt, prägt sich ein.

Sehr zu Herzen geht die Liebesgeschichte des reifen Paars Nick (Jogi Kaiser) und Diane (Carin Filipcic in Regensburg, Maria Mucha in München), Passagiere, die sich zufällig in diesen Tagen von Gander kennen- und liebenlernen. „Warte, Welt“, in diesem Song vergegenwärtigen sich die beiden wehmütig, dass sie, nachdem der Luftraum wieder freigegeben ist, in ihre jeweiligen Leben zurückkehren werden. Zum Glück gibt es doch noch ein Happy-End, Nick zieht später zu Diane. Zuvor hält Nick mit seiner Kamera die Momente in Gander fest, was für eine Erinnerung!

Drei weitere starke Frauencharaktere bleiben nachhaltig in Erinnerung: die tierliebe Bonnie (Fabiana Locke), vor Ort im Tierheim tätig, unternimmt alles, um die zahlreichen in den Frachträumen der Flugzeuge befindlichen Tiere zu versorgen. Darunter ein hochträchtiges Bonoboweibchen, das leider aufgrund des ganzes Stresses eine Totgeburt erleidet.
Die patente Beulah (Patricia Hodell) organisiert an vorderster Front Unterbringung und Versorgung für die Gestrandeten. Und steht der verzweifelten Hannah (Masengu Kanyinda) bei, die um ihren Sohn in New York bangt, der als einer der Einsatzkräfte am WTC hilft. Und dabei, wie man am Ende erfährt, sein Leben lässt. Das traumatische Erlebnis verbindet die beiden Frauen fortan in enger Freundschaft.
Alle Darstellenden überzeugen mit exzellentem Spiel und Gesangsstimmen, die achtköpfige Band (platziert im Halbrund der mehretagigen roten Stahlträger) spielt leidenschaftlich auf – ein grandioses Musiktheatererlebnis!
Schlussapplaus:







Fazit: Genau SO geht modernes Musiktheater heute! Riesenjubel im Publikum, sowas von verdient. Die faszinierende Ensembleleistung begeistert vollends, umso mehr, als es sich um eine wahre Geschichte handelt. Wie dies umgesetzt wird, ist schlicht fabelhaft. Großer Glückwunsch an das Theater Regensburg, das sich mit enormem Engagement die deutschsprachige Erstaufführung gesichert, inszeniert und dann sowas von abgeliefert hat. Muss man sehen und erleben!
Ende des Jahres wird die österreichische Erstaufführung am Landestheater Linz zu erleben sein und hoffentlich kommt das Stück bald wieder auf deutsche Bühnen.
Silvia E. Loske, September 2025
Copyright Showfotos: © Liebig
Copyright Schlussapplausfotos: © Musical Reviews
Video kompletter Schlussapplaus vom 9. Juli 2025 auf Instagram _musical_reviews
Trailer:
Musical von Irene Sankoff und David Hein, deutsche Übersetzung: Sabine Ruflair
Kreative:
Musikalische Leitung: Andreas Kowalewitz
Inszenierung: Sebastian Ritschel
Choreographie: Gabriel Pitoni
Ausstattung: Kristopher Kempf‘
Licht: Maximilian Rudolph
Dramaturgie: Ronny Scholz
Darstellende:
Claude (Derm, Eddie): Benedikt Eder
Beverley (Annette, Reporterin): Wietske van Tongeren
Kevin T. (Garth, Präsident Bush): Andreas Bieber
Bonnie (Martha): Fabiana Locke
Beulah (Delores): Patricia Hodell
Oz (Joey, Zollbeamter, Mr. Michaels, Terry, Matty, Rabbi, Kardiologe): Felix Rabas
Janice (Britney, Flugbegleiterin): Scarlett Pulwey
Diane (Crystal, Brenda): Maria Mucha (München), Carin Filipcic (Regensburg)
Nick (Doug, Officer Stephenson): Jogi Kaiser
Kevin J. (Dwight, Ali): Alejandro Nicolás Firlei Fernández
Bob (Muhumuza, Captain Bristol): Lionel von Lawrence
Hannah (Margie, Micky): Masengu Kanyinda
8-köpfige Band unter Leitung von Andreas Kowalewitz und Ben Weishaupt