VICTOR/VICTORIA im Alten Schauspielhaus Stuttgart, Premiere 13.12.2013

Victor Victoria Stuttgart 176.bIst Liebe wirklich eine Zweibahnstraße?

Als 1982 die von Autor Blake Edwards (u. a. „The Pink Panther“) geschriebene und hochkarätig besetzte Komödie in die Kinos kam zeigte sich bald, dass dem Meister der intelligenten Situationskomik ein großer Erfolg gelungen war. Der Film heimste viele internationale Auszeichnungen ein, war unter anderem für sieben „Oscars“ nominiert und gewann diese begehrte Statue in der Kategorie „Beste Filmmusik“. 

13 Jahre später wurde aus dem Film ein Musical gebastelt und am Broadway erfolgreich uraufgeführt. Erneut verkörperte die charismatische Hauptdarstellerin aus dem Film und Ehefrau des Autors, die wunderbare Julie Andrews, die Doppelrolle der erfolglosen Sopranistin Victoria und von „Europas erfolgreichstem Frauendarsteller“, Victor. Während die Szenen und Dialoge im Musical zum Großteil identisch mit dem Film sind, wurden an der Partitur einige Änderungen vorgenommen. So entfiel leider die große Shownummer des Films The Shady Dame from Seville (irgendwelche undurchsichtigen rechtlichen Probleme waren wohl der Grund) und der Finalsong Victor/Victoria sowie die schöne Ballade Living in the Shadows (Licht und Schatten) kamen neu hinzu.

Den überbordenden amerikanischen Wortwitz ins Deutsche zu übertragen, war sicherlich keine leichte Aufgabe, wurde indes von Stefan Huber gut gelöst.

Das Stück wurde in Deutschland und Österreich in den letzten knapp zwei Jahrzehnten bereits an einigen Stadttheatern sowie als Tourneeproduktion auf die Bretter gebracht.

Nun also nimmt sich das Alte Schauspielhaus Stuttgart des Stückes an. Regisseur Ulf Dietrich inszeniert mit leichter Hand und immer gut auf Tempo bedacht in liebevoll detaillierter Personenführung mit einem sehr starken Ensemble dieses auf den ersten Blick leicht altmodisch-charmant angestaubte Musical – das eigentlich eher eine Komödie mit Musikeinlagen ist. Die geschliffenen, hinreissend ironisch-pointierten Dialoge und boulevardesk anmutenden Spielszenen stehen dabei eindeutig im Vordergrund.

Der Plot ist schnell erzählt: Im dekadent-verruchten Nachtclubleben des Paris der Dreissiger Jahre ist die englische Sopranistin Victoria verzweifelt auf der Suche nach einer Anstellung. Halb verhungert lernt sie bei einem – wieder einmal erfolglosen – Vorsingen den abgehalfterten, schwulen Nachtclubsänger Toddy kennen. Dieser, mit einem großen Herzen und viel Lebenserfahrung ausgestattet, nimmt Victoria mit zu sich und steckt sie in den Pyjama seines ehemaligen Liebhabers. Als dieser windige Bursche unverhofft in Toddy’s Wohnung platzt, hält er Victoria fälschlicherweise für einen Mann – was wiederum in Toddy einen wahnwitzigen Plan reifen lässt: Victoria solle sich, als Mann verkleidet und mit tieferer Stimme, als Europas erfolgreichster Frauendarsteller, „Graf Victor Grazinski aus Polen“ auf der Bühne präsentieren. Mit geschnittenem Haar, gesteckt in männliches Outfit und mit betont markig-männlicher Attitüde fällt anderntags der größte Impresario von Paris tatsächlich auf Victorias Scharade herein und engagiert sie/ihn vom Fleck weg für seinen Club. Umgehend liegt dem neuen Star am Showhimmel ganz Paris zu Füßen.

Zu Victor’s Bewunderern gehört auch der attraktive, souverän-arrogant auftretende und im halbseidenen Gangster-Milieu von Chicago angesiedelte Nachtclubbesitzer King Marchan, der samt Bodyguard Mr Bernstein und platinblond-schrillem Anhängsel Norma zufällig gerade in Paris weilt. Allerdings stürzt die Anziehungskraft, die Victor bei King Marchan auslöst, diesen Frauenhelden in ärgste Zweifel an seiner Männlichkeit. Denn es kann doch überhaupt nicht sein, dass er sich in einen Mann verlieben könnte. Da sich auch Victoria hoffnungslos in King Marchan verguckt, nimmt die Verwechslungskomödie ihren aberwitzigen Lauf…

Im Vergleich mit zum Beispiel „Ein Käfig voller Narren“ (La Cage aux Folles) wird in „Victor/Victoria“ die Thematik der geschlechtlichen Ausrichtung sehr viel subtiler, tiefgründiger, weniger platt und mit viel liebenswerter Empathie behandelt. Die Grundaussage des Stückes ist ganz einfach auf einen Nenner zu bringen: Die Liebe zu einer Person ist ausschlaggebend, welchem Geschlecht diese Person angehört, ist zweitrangig. Und dies ist, gerade wenn man Richtung Osteuropa und die dort hochkochende Homofeindlichkeit blickt, von hochaktueller Brisanz. Wenn nur jeder der Musicalbesucher nach der Show ein Fünkchen mehr Toleranz mit nach Hause nimmt, ist das ein weiterer wichtiger Schritt in Richtung gesellschaftlicher Gleichbehandlung.

Die Show beginnt etwas verhalten und benötigt eine halbe Stunde, bis die Story an Fahrt aufnimmt, dann aber gibt es kein Halten mehr, die Ereignisse überschlagen sich in bester Slapstick-Manier. Die große Revueshownummer Le Jazz Hot ist sicher der musikalische und tänzerische Höhepunkt. Natürlich muss das Kreativ-Team mit weniger Glamour und Tänzern auskommen, als im Film. Aber die jeweils drei weiblichen und männlichen Tänzer unter höchst rasanter und exakter Choreographie von Alexander Grünwald geführt strahlen um die Wette und sorgen für schwungvolles Swing- und Jazzfeeling. Victor’s Divenauftritt in der Nummer wird gekrönt von einem in dieser Form noch nie dagewesenen Extra: Er/sie spielt ein Trompetensolo, das einen höchst beeindruckt und natürlich gar nicht in die Originalnummer gehört, aber eine superbe Idee der Regie ist: Antje Rietz in der Titelrolle spielt neben ihrer Schauspieltätigkeit in einer Damenband und eben dort erstklassig Trompete.

Das unmittelbare Auftauchen von King Marchan und seiner Entourage nach der großen Shownummer bringt Pfeffer ins Geschehen. Während sich King Marchan den Kopf zerbricht, wie um alles in der Welt es sein kann, dass er diesen Travestiekünstler Victor so verdammt attraktiv findet, läuft Gespielin Norma, der personifizierte Blondinenwitz, zu nervensägender Betriebstemperatur auf.

Einen ersten massiven Angriff auf die Lachmuskeln – in der Premiere mit Szenenapplaus bedacht – liefert Nymphchen Norma, als sie sich mit herrlich überdrehter gesanglicher Aufzählung der Betten aller Städte, in denen sie schon tätig war (…“und in Stuttgart, da spricht man zuviel Mundart…“) und mit beachtlicher Akrobatik an die Verführung ihres King macht. „Pooookiiiiiieee“  reagiert aber so gar nicht auf ihre tollpatschig-lasziven Bemühungen, schwirrt ihm doch immer noch dieser Victor im Kopf herum.

Dieses Geschehen findet statt in zwei gespiegelten Hotel-Suiten auf zwei Etagen, links residiert King Marchan mit Bodyguard und Norma, rechts ziehen Victoria und Toddy ein.

Und diese Kulisse bietet sodann auch den komödiantischen Höhepunkt der Show in der Katz & Maus Szene. Unterlegt mit höchst passendem Underscoring geistern sechs Darsteller in diesen beiden Suiten jeweils auf zwei Etagen, treppauf-treppab, durch Hinein- und Hinaushuschen aus insgesamt neun Türen, umher. King Marchan entert die nebenliegende Suite, um einen Beweis dafür zu finden, dass Victor kein Mann ist, Bodyguard Squash Bernstein ist auf der Suche nach seinem Boss und der misstrauische Nachtclubbesitzer Henri Labisse will der seltsamen Sache mit diesem Grafen Victor Grazinski ebenfalls auf den Grund gehen. Zwischendrin Victoria und Toddy und ein Zimmermädchen, das reichlich Gebrauch von den Alkoholika der beiden in den Suiten gut bestückten Bars macht. Dieses Versteckspiel ist einfach nur zu köstlich und man bedauert geradezu, dass die Szene nach guten sechs Minuten zu Ende ist, man hätte gern noch länger lachend zugeschaut.

King und Victor(ia) nähern sich an, verlieben sich, trauen sich aber als vermeintliches Homopaar nicht in die Öffentlichkeit. Damit hat in erster Linie King ein Problem, denn er möchte nicht als schwul gelten. Man trennt sich, findet aber wieder zueinander – die Liebe siegt letztlich und King’s Entwicklung geht dahin, dass es ihm dann egal ist, was die Leute sagen.

Dummchen Norma, mittlerweile von King aufgrund ihrer lästig-enervierenden Art zurück nach Chicago geschickt, wanzt sich dort an Kings Geschäftspartner Sal heran und steckt diesem, dass King in Paris mit einer Tunte rummachen würde. Sie garniert diese Intrige mit einer „Gesangs- und Tanznummer“, bei der kein Auge trocken bleibt. Chicago Illinois wurde im Film als schwülstiger Sex-Totalangriff von der großartigen Lesley-Ann Warren gesungen und gespielt. Im Stuttgarter Musical macht Maja Sikora daraus ein Kabinettstückchen der anderen Art. Zwar ist auch sie dürftig bekleidet bei ihrer Shownummer, allerdings stellt sie sich dabei so urkomisch linkisch an, wenn sie zum Beispiel umständlich auf die Theke klettert, um dort mit ihrer Federboa vermeintlich sexy herumzuspielen, dass man sich wirklich vor Lachen kaum halten kann. Diese Knallcharge so dermaßen brillant zu performen, das ist wirklich großes Kino. Bravo!

Gangster Sal bricht auf nach Paris, im Schlepptau Norma und zwei seiner tumben Handlanger, um sich dort selbst von King Marchan’s amourösen Abwegen zu überzeugen und diesen zu erpressen, ihm seine Geschäftsanteile abzutreten. Natürlich kommt es, wie es kommen muss: Ein heilloses Durcheinander zwischen den Gangstern, Norma, Toddy, Squash Bernstein, King und Victoria in der Hotelsuite ist die Folge. Victoria ist es leid, weiterhin den Mann zu spielen, daher schleppt sie die kreischende Norma kurzerhand ins Schlafzimmer und outet sich dort als Frau. Dies wird durch das Fenster von Labisse beobachtet, der daraufhin seinen Verdacht bestätigt sieht und Victoria als Schwindlerin auffliegen lassen will.

Doch dazu kommt es nicht, greift doch Toddy in der folgenden finalen Shownummer tief in die Showtrickkiste und alles ist gut. Mehrere Outings sind bis dahin erfolgt und so besingen die Paare King & Victoria und Toddy & Squash Bernstein augenzwinkernd Victor/Victoria.

Die Titelheldin Antje Rietz überzeugt vollends mit nuanciertem Schauspiel, guter Stimme und geschmeidiger Beweglichkeit in den Tanznummern. Nicht zu vergessen ihr bereits erwähntes grandioses Trompetenspiel. Sie beeindruckt als unglücklich verliebte Victoria mit Licht und Schatten, ihr Zusammenspiel mit Freund Toddy ist glaubhaft und bisweilen anrührend, die Chemie zwischen ihr und King Marchan stimmt ebenfalls.

Volker Risch verkörpert den gewitzten und lebensklugen Toddy mit viel Charme, ohne jemals zu sehr in die Tuntigkeit abzurutschen. Sehr bemerkenswert ist, dass der Darsteller ein reiner Schauspieler ist und somit das erste Mal mit dem Genre Musical in Kontakt kommt. Er singt und tanzt vortrefflich, auch wenn er meint, Musikalischer Leiter (Niclas Ramdohr) und Choreograph (Alexander Grünwald) hätten mit ihm viel Arbeit gehabt.

Mit der Verpflichtung des beliebten Musicalstars Jan Ammann ist dem Alten Schauspielhaus ein großer Coup, begleitet von erheblichem Medieninteresse, gelungen. Kennt man den stimmgewaltigen Bariton bislang aus dramatischen Musicalrollen mit hohem Gesangsanteil, so hat er in diesem Stück in erster Linie schauspielerisch zu tun. Und dies gelingt ihm ganz vorzüglich, man merkt ihm richtig an, wieviel Spaß er bei der Gestaltung seiner Rolle hat – da wurde ein bislang schlummerndes komödiantisches Talent freigelegt. Wie er sich als Macho-Bolzen im Frack mit alle anderen Darsteller um mehr als einen Kopf überragender Körpergröße mit Leichtigkeit und Eleganz behende in der Katz & Maus Szene unter das Bett faltet, das hat schon was!

Sein lakonisches Solo King’s Dilemma beginnt als rhythmischer Sprechgesang und steigert sich dann zum Ende hin gesanglich so, dass der Künstler in den Schlusstönen doch noch seinen beeindruckenden Stimmumfang auspacken kann. Im Kontrast dazu ist sein Duett Kingt fast wie Liebe mit Antje Rietz eher zart und von ganz anderer gesanglicher Ausrichtung.

Michael Hiller als Bodyguard Squash Bernstein und Martin Planz als Henri Labisse holen aus ihren Rollen alles heraus, Reinhold Ohngemach als Impresario André Cassell agiert rollendeckend.

Das höchst engagierte Tanzensemble aus sechs jungen Künstlern spielt auch noch alle Nebenrollen und hat sogar die ein oder andere solistische Nummer. Dabei bleibt vor allem Luigi Scarano sehr positiv im Gedächtnis.

Das Bühnenbild (Dietmar Teßmann) bietet mit geschmeidigen Szenenwechseln die jeweils genau richtigen Spielflächen, die Kostüme (Monika Seidl) sind glitzernd-sexy und ein Fest fürs Auge (mit Ausnahme vielleicht des viel zu großen Morgenmantels von King Marchan…). Die Verantwortlichen von Licht und Ton machen ihre Sache gut.

Das „Orchester“ besteht aus fünf schwungvoll aufspielenden Musikerinnen. Die Ladies hatten zuvor noch nie miteinander gespielt, umso bemerkenswerter die Gesamtleistung als zusammengewürfelte Band.

Als Fazit bleibt festzuhalten:
Diese „Victor/Victoria“ Inszenierung ist einfach zauberhaft, voller Tempo, mit Lachtränen-Garantie, doch auch die leise-berührenden Momente kommen nicht zu kurz. Definitiv ein „Must-See“ für jeden Musical- und Theaterfan! Das Premierenpublikum amüsierte sich köstlich, spendete mehrmals Szenenapplaus und am Ende Standing Ovations, unzählige Vorhänge folgten.

Wer sich also einen höchst unterhaltsamen und amüsanten Abend gönnen will, der sollte sich tunlichst rasch um Karten für dieses Stück bemühen. Das Alte Schauspielhaus ist bereits mehr als gut gebucht, es gibt nur noch Restkarten, daher hurtig ins Internet oder ans Kartentelefon!

Weitere Informationen und Tickets unter www.schauspielbuehnen.de  und unter Tel. (0711) 2265505.

Die Show läuft noch bis zum 1. Februar 2014, täglich um 20:00 Uhr, außer Sonntags.

(Silvia E. Loske, Dezember 2013)

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Musical von Blake Edwards (Buch), Henry Mancini (Musik) und Leslie Bricusse (Liedtexte). Deutsch von Stefan Huber

 

Inszenierung

Ulf Dietrich

Musikalische Leitung

Niclas Ramdohr

Choreographie

Alexander Grünwald

Bühnenbild

Dietmar Teßmann

Kostüme

Monika Seidl

Dramaturgie

Annette Weinmann

Darsteller:

 

Victor/Victoria Grant

Antje Rietz

Toddy

Volker Risch

King Marchan

Jan Ammann

Norma

Maja Sikora

Squash Bernstein

Michael Hiller

André Cassell

Reinhold Ohngemach

Henri Labisse / Ensemble

Martin Planz

Sal/Gregor/Jazz-Sänger/Ensemble

Luigi Scarano

Blumenmädchen/Mdme Roget /Ensemble

Fabiana Denicolo

Richard/Kellner/Clam/Ensemble

Daniel Wernecke

Mlle Selmer/A. Präsidentin/Ensemble

Tanja Schön

Zimmermädchen/Reporterin/Ensemble

Verena Raab

Juke/männl. Gast/Ensemble

André Naujoks

Bühnentechniker

Ivaylo Dochev

Swing Ensemble

Carmen Voigt

Die Band: Yu-Wie Ku (Keyboard), Heike Rügert (Reeds), Katrin Schüler-Springorum (Gitarre, Banjo), Brigitte Haas (Drums), Judith Goldbach (Bass).