Premiere im Theater am Hagen, Straubing, 8. März 2019
Russisches Melodram mit beeindruckender Leidenschaft in Szene gesetzt
Wer hätte das gedacht: Nach der Uraufführung in San Diego, daran anschließend Stationen in Toronto, am Broadway, in Australien (Melbourne), in einigen Metropolen Europas, der umjubelten deutschen Erstaufführung in Leipzig Anfang 2018 und einer Stadttheaterbespielung in Pforzheim ebenfalls 2018 dockt nun das episch-schwermütige Musical Doktor Schiwago im niederbayrischen Straubing an.
Foto: Crazy Musical Company
Doch das Bemerkenswerteste daran ist nicht der auf den ersten Eindruck fast exotisch-außergewöhnlich anmutende provinzielle Spielort sondern die Tatsache, dass dieses doch ziemlich anspruchsvolle Stück Musiktheater in einer Aufführungsserie von zwölf Shows von einer Schar musicalbegeisterter Laiendarsteller auf die Bühne gebracht wird. Lediglich das Hauptkreativteam aus Regie, musikalischer Leitung und Choreografie sowie der Hauptdarsteller sind professionell ausgebildete Musiktheaterprofis.
Ob das gut gehen kann? Man könnte versucht sein anzunehmen, dass es für einen Musicalverein naheläge, aus der Vielzahl von leichtgewichtigen Musicals eine Auswahl zu treffen und umzusetzen. Doch das wäre für die Mitglieder der 2011 gegründeten Crazy Musical Company, die sich aus ambitionierten und für das Genre brennenden Musicalverrückten (nomen est omen) zusammensetzt, wirklich zu einfach. Nein, nach den bereits künstlerische Ausrufezeichen setzenden Produktionen Oliver!, Sunset Boulevard und Jekyll & Hyde wagte man sich mutig und beherzt an die Musicalversion des dramatischen literarischen Stoffes Doktor Schiwago von Nobelpreisträger Boris Pasternak.
Viele Monate an engagierter Vorbereitung und Probenzeit, welche die mehr als 50 Darsteller in ihrer Freizeit neben Schule, Studium und Beruf mit Begeisterung bewerkstelligten, mündeten nun in der Premiere im adretten 300 Plätze fassenden Theater Am Hagen in Straubing.
Bereits beim Betreten des geräumigen Theatervorderhauses umfängt einen das bei Premieren immer in der Luft liegende, flirrende, fast mit Händen greifbare besondere Flair an gespannter Vorfreude/Aufregung/Erwartung. Doch gibt es hier im freundlich-modernen Foyer einen entscheidenden Unterschied: Wohltuend registriere ich die völlige Abwesenheit von in Selbstdarstellung posierenden, aufgebrezelten C- und D-Promis (dies treibt mittlerweile seltsame Blüten: so wurde kürzlich bei einer der üblichen Musicalpremieren die Ehefrau eines ehemaligen Skispringers auf der Promi-Ehrengastliste als solche geführt…).
Stattdessen überall herzliche, fast familiäre Atmosphäre. Man kennt sich, die Besucher freuen sich auf Angehörige, Freunde, Nachbarn, Kollegen, Mitschüler, die auf oder hinter der Bühne oder im Orchestergraben alle an diesem Theatererlebnis mitwirken. Sympathische junge Mädchen, schon fertig in Maske und Kostüm, weil es für sie bald auf die Bühne geht, kümmern sich freundlich um die Besucher, das gut gestaltete A4 Programmheft gefällt. Auch hier wird sogleich ein Unterschied zu den Druckerzeugnissen einiger professioneller Theaterbetriebe deutlich: bei Letzteren hat sich die immer mehr um sich greifende Unsitte eingebürgert, völlig überteuerte aber dafür mit Unmengen an Orthographie- und Grammatikfehlern behaftete Programmhefte, die beim Lesen nahezu Augenkrebs verursachen, in erstaunlicher Dreistigkeit dem Musicalpublikum für teures Geld anzudrehen.
Nun zur Geschichte des Stücks:
Das Musical basiert auf dem 1957 erschienenen gleichnamigen Roman von Boris Pasternak. Vom Ende der Zarenzeit bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts reicht der historische Spannungsbogen und erzählt die bewegte Geschichte des Arztes und Poeten Jurij Andrejwitsch Schiwago und nimmt dabei das Publikum mit auf eine Reise in das Russland zwischen erstem Weltkrieg und Oktoberrevolution.
Alles beginnt mit dem Selbstmord von Jurijs Vater, die Mutter war vor einiger Zeit bereits gestorben. Im zaristischen Moskau verbringt der Vollwaise seine Kindheit und Jugend im Kreise der großbürgerlichen Familie Gromeko, die ihn nach der familiären Tragödie in ihre Obhut nimmt.
Foto: Crazy Musical Company
Mit Tonia, der Tochter seiner Pflegeeltern, wächst er zusammen auf. Später wird er sie zur Frau nehmen, die er zwar verehrt, achtet und liebt. Doch eine andere Frau wird seinen Weg kreuzen, mit der er eine Seelenverwandtschaft erlebt, diese Beziehung aber nicht von dauerhaftem Glück sein wird. Ermöglicht durch die wohlhabenden Gromekos schließt Jurij sein Medizinstudium ab und wird aus rein sachlich-praktischen Gründen Arzt. Seine Liebe gilt jedoch der Literatur und den Gedichten.
In einem parallelen Handlungsstrang wird die Geschichte von Larissa (Lara) Guichard erzählt. Ebenfalls in Moskau wächst sie bei ihrer Mutter auf und unterstützt diese von früh bis spät in der Nacht in deren Nähsalon. Lara steht unter dem Einflussbereich zweier Männer. Da ist zum einen der rücksichtslose Anwalt Komarovskij, der sie verführt, und zum anderen der idealistische Revolutionär Pavel (Pascha) Antipov.
Foto: Crazy Musical Company
Auf der Hochzeitsfeier von Jurij und Tonia taucht Lara auf und versucht, Komarovskij, der als Gast zugegen ist, zu erschießen. Jurij fasziniert diese Fremde mit ihrer Leidenschaft und Bedingungslosigkeit.
Foto: Crazy Musical Company
Pascha zieht in den ersten Weltkrieg und heiratet zuvor Lara. Jurij wird ebenfalls in den Krieg einberufen und als Arzt an die ukrainische Front versetzt. Dort im Lazarett trifft er erneut auf Lara, die inzwischen als Krankenschwester tätig ist und nach ihrem vermissten Mann sucht.
Foto: Crazy Musical Company
Die beiden verlieben sich ineinander, gehen aber bewusst aus Respekt vor ihren jeweiligen Ehepartnern keine Beziehung ein.
Foto: Jana Zellmer Fotografie (Alen Hodzovic als Doktor Schiwago)
Nach Ende des Einsatzes an der Front trennen sich ihre Wege. Jurij kehrt zurück nach Moskau. Dort findet er sein Haus beschlagnahmt und besetzt vor, die Familie leidet unter Hunger und Kälte und muss sich mit dem Dachgeschoss ihres ehemals prächtigen Anwesens begnügen.
Foto: Crazy Musical Company
Schiwago selbst ist den neuen Machthabern verdächtig. Nur knapp entgeht er einer Exekution und erkennt, dass es in Moskau keine Zukunft mehr für ihn gibt. Mit seiner Familie flüchtet Jurij in den Ural, dort hat die Familie Gromeko ein Landgut. Sie erhoffen sich dort ein Leben in Ruhe, Jurij zudem Zeit, sich Literatur und Dichtung zu widmen.
In Sibirien trifft Schiwago ein drittes Mal auf Lara, die sich ausgerechnet im Nachbarort des Gromoko Landguts niedergelassen hat und in der Bibliothek arbeitet, gegen ihre Liebe kommen beide nicht an, fortan führt Jurij ein Doppelleben, eines mit Lara und eines mit seiner Familie.
Infolge der Revolution hat der Bürgerkrieg inzwischen auch den Ural erreicht. Unerbittliche Kämpfe zwischen Weiß- und Rotarmisten sind an der Tagesordnung. Führer der Roten Armee ist Pascha Antipov, der sich jetzt Strelnikow nennt. Er hat seine Frau Lara nie aus den Augen verloren und er bemerkt, was sich da zwischen Lara und Schiwago tut. Aus Eifersucht weist er seine Partisanen an, Schiwago auf dem Rückweg eines seiner Besuche bei Lara zu verschleppen damit dieser von Lara getrennt wird, überdies muss Jurij Schiwago als Arzt der Roten Armee dienen.
Foto: Crazy Musical Company
Jurij gelingt die Flucht und er findet völlig entkräftet zurück in den Ural, schlüpft dort bei Lara unter, die ihn gesund pflegt. Für eine kurze Zeit genießen die beiden ihre Zweisamkeit.
Foto: Crazy Musical Company
Komarovskij jedoch spürt die Liebenden auf. Um Lara und ihr ungeborenes Kind zu retten, drängt Jurij unter dem Vorwand, ihnen nachzureisen, Lara dazu, mit Komarovskij das Land zu verlassen. Er selbst kehrt nach Moskau zurück, schreibt sich seine Einsamkeit vom Leib und verstirbt nach einigen Jahren. Zu seiner Beerdigung kehrt Lara mit der gemeinsamen Tochter Katharina nach Moskau zurück. Am Grab ihres Vaters verliest Katharina ein Gedicht Schiwagos.
Dies ist kein Musical, das man mal eben als reines Entertainment im Vorübergehen konsumiert. Vielmehr lohnt es sich, dass man sich in den gut zweieinhalb Stunden reiner Spielzeit voll auf die Geschichte einlässt, eintaucht in die Tiefen der russischen Seele. Es wird gelitten, gehungert und gefroren – mittels immer wieder im Bühnenhintergrund effektvoll vom Schnürboden herabrieselnden Schnees fühlt man sich fröstelnd in den sibirischen Winter versetzt. Und es werden Menschen im Krieg schwer verletzt, traumatisiert und auch eiskalt hingerichtet.
Foto: Crazy Musical Company
Kurzum: wenn man das Geschehen auf der Bühne an sich heranlässt, dann nimmt einen die Geschichte emotional heftig mit und es wird die ein oder andere Träne verdrückt. Dies im Übrigen nicht nur vom weiblichen Publikum, sondern – wie in meiner Reihe in der Premiere erlebt – auch von gestandenen Herren.
Foto: Crazy Musical Company
Nun zur Umsetzung des Musicals: Das mit 16 Musikern unter versierter Leitung bestückte Orchester stimmt die Ouvertüre „Schwarz-Weiß“ an, der Chor setzt ein und es tritt sofort verschärfte Gänsehaut auf.
Foto: Musical Reviews
Und der nächste Gedanke ist: Wenn jetzt auch noch die Solisten gut sind, dann ist diese Inszenierung ein Volltreffer. Um es vorwegzunehmen – ja, es ist ein Volltreffer. Es passt alles zusammen, es fügt sich ein Rädchen ins andere.
Das Bühnenbild kommt ohne wuchtige Requisiten aus, der Aufbau mit den seitlich vertäfelten hellen Wänden, in denen Türen eingelassen sind, erinnert an die Inszenierung in Leipzig. Einzelne kleinere Bühnenteile werden vom Ensemble herein- und auch wieder hinausgefahren, es funktioniert alles reibungslos. Auf der Hinterbühne spielt sich einiges ab, dort befindet sich, hinter lichten halbhohen Gitterelementen, eine weitere Spielebene, viele Details fügen sich zusammen, die Regie hat durchgehend großartige Arbeit geleistet. Links und rechts der Bühne werden unaufdringliche, aber atmosphärisch dichte Scherenschnitt-artige Projektionen eingeblendet, am oberen Bühnenrand finden sich Einblendungen zu der jeweiligen Verortung der Szenen, so dass auch der stück-unkundige Besucher jederzeit nachvollziehen kann, wo die aktuelle Szene spielt.
Foto: Crazy Musical Company
Das Lichtdesign ist perfekt atmosphärisch gestaltet, der Ton zwischen Orchester und Gesang ist ausgewogen, alle Mikroports wurden punktgenau aufgeschaltet (im Gegensatz zu so einigen von mir letztlich besuchten professionellen Musicalproduktionen!).
Die Partitur von Lucy Simon erschließt sich in ihrer ganzen Schönheit nicht sofort auf Anhieb, jedoch mit jedem weiteren Anhören verankert sich die Balladen- und Chor-lastige Musik, durchsetzt mit russischen Melodien, immer mehr und vor allem tiefer im Gehörgang. Großartige Duette wie „Sieh zum Mond“ (Jurij & Tonia) und insbesondere „Jetzt“ und die Hymne der Show, „Jenseits aller Zeit“, beides Duette Jurij & Lara, sowie das Damen-Duett „Trotzdem wundert es mich nicht“