DER GLÖCKNER VON NOTRE DAME

Ronacher, Wien, 4. Dezember 2022

Auf der Grundlage des Weltliteratur-Romans von Victor Hugo entstanden grandiose Filmumsetzungen von 1939 mit Charles Laughton und 1956 mit Anthony Quinn und Gina Lollobrigida, die bahnbrechende Darstellerleistungen aufwiesen. Ein Blick auf Youtube lohnt sich.

Um auf den Zug aufzuspringen, bringt der Disney-Konzern 1996 einen Zeichentrickfilm in die Kinos, worauf es sich nicht weiter einzugehen lohnt. Dass dann ausgerechnet besagter Konzern ein Musical aus dem dramatischen Stoff adaptiert, verwundert doch allemal. Zeichnen sich die zahlreichen Musicals des Konzerns, mit welchen der Markt überschwemmt wird, doch in erster Linie durch pompösen Kitsch und zuckrige Happy-Ends aus, und nicht durch anspruchsvolles Musiktheater. Nun, auch so etwas hat im Genre seine Daseinsberechtigung, zielt auf eine Mainstream-Kundschaft für Familien mit Kindern ab. Trägt aber nicht gerade dazu bei, dass das Genre Musical an Bedeutung als ernstzunehmende Kunstform hinzugewinnt.

Die Bühnenumsetzung des Glöckners von Notre Dame ist hier die rühmliche Ausnahme von der Regel. 1999 fand in Berlin im Theater am Potsdamer Platz die Uraufführung des Musicals der Produzenten von Disney Theatricals statt. Ein Novum, dass eine Uraufführung außerhalb der USA platziert wurde. Drew Sarich spielte seinerzeit seine erste Hauptrolle im deutschsprachigen Raum als der bucklige Quasimodo und setzte damit den Startpunkt zu seiner großen Karriere als Leading Man im Musical. 2017 dann folgte eine gründliche Überarbeitung und Entkitschung des Stücks in der deutschen Übersetzung von Michael Kunze und wurde mit großem Erfolg erneut in Berlin gezeigt, mit David Jakobs in der Hauptrolle. Der nun seine Paraderolle des Quasimodo auch in Wien seit Oktober 2022 verkörpert.

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© VBW Deen van Meer

Die Geschichte des Romans von Victor Hugo spielt im 15. Jahrhundert in Paris, in der weltberühmten Kathedrale Notre Dame. Dort wirkt der gestrenge Erzdiakon Claude Frollo, er nimmt das missgestaltete Baby seines sterbenden Bruders zu sich und versteckt fortan das Kind vor der Welt in seiner Kathedrale. Quasimodo, wie der Knabe genannt wird, fristet im Kirchturm sein Dasein als Glöckner, vom Lärm der Glocken mittlerweile taub geworden. Einsam und nur von dort hoch oben kann er die Welt und das Treiben der Menschen vor der Kathedrale beobachten. All seinen Mut zusammennehmend schleicht sich Quasimodo eines Tages zum alljährlichen Fest der Narren aus der Kathedrale und möchte teilhaben am Leben außerhalb seines Gefängnisses. Doch er wird von den Menschen verspottet und drangsaliert wegen seiner Hässlichkeit, nur die schöne Zigeunerin Esmeralda hat Mitleid mit ihm und schützt ihn vor der Meute. Sie ist der erste und einzige Mensch, der Empathie für die geschundene Kreatur zeigt, kein Wunder also, dass sich Quasimodo in die schöne junge Frau verliebt.

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© VBW Deen van Meer

Doch zwei weitere Männer haben ein Auge auf Esmeralda geworfen: da ist der junge Hauptmann Phoebus de Martin, der traumatisiert von Kriegsschauplätzen nach Paris zurückgekehrt ist. Und fatalerweise auch Quasimodos Ziehvater, Erzdiakon Frollo, verzehrt sich nach Esmeralda. So nimmt das Unheil im Spannungsfeld zwischenmenschlicher Begehrlichkeiten unweigerlich seinen Lauf…

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Im Ronacher stellt das Bühnenbild (Alexander Dodge) das Innere der Kathedrale mit einer mehretagigen Holzkonstruktion und seitlichen Balustraden die stimmige Räumlichkeit des Geschehens dar. Sieben riesige Glocken werden in den entsprechenden Szenen vom Schnürboden herabgelassen, welche Quasimodo an deren Seilen akrobatisch schwingend zum Klingen bringt.

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Ein 24-köpfiger großartiger Chor und die Mitglieder einer Kirchengemeinde, welche den Fortgang der Geschichte erzählen, sind fast durchgehend in der Kulisse zugegen. Mit wenigen Handgriffen werden Kulissenteile von den Seitenbühnen in den Vordergrund geschoben, wie z.B. bei den Szenen, in denen Quasimodo mit Frollo oder mit Esmeralda alleine agiert.

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Ebenso wird die Bühnenmitte mit wenigen Requisiten zum Marktplatz und zum Hof der Wunder der Gaukler. Alles greift nahtlos ineinander und durch die wenigen Änderungen am Bühnenbild konzentriert sich automatisch alles auf die sehr guten Darsteller. Eine wichtige Rolle spielt dabei auch das zu jeder Zeit sehr gelungene und effektvolle Lichtdesign (Howell Binkley), um die Stimmungen szenengenau zu vermitteln. In den beiden Seitenteilen der Konstruktion sorgen kleine Drehpodien dafür, dass dort zum einen Ensemblemitglieder agieren und blitzschnell durch eine Drehung diese verschwinden und sakralen Steinfiguren Platz machen. Ein sehr gelungener Regieeinfall (Inszenierung: Scott Schwartz).

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Mit Ausnahme einiger weniger Szenen, in denen der Fokus auf einzelnen Charakteren wie Frollo oder Quasimodo liegt, ist ständig viel los auf der Bühne. Quirlige Tanznummern unter zahlreicher Beteiligung des Ensembles rund um die temperamentvolle Esmeralda ziehen in den Bann, die schwungvolle Choreographie von Chase Brock kann schlichtweg nur als überaus mitreißend bezeichnet werden. Die farbenfrohen Kostüme der Gaukler stehen im Kontrast zu den gedeckten Gewändern von Quasimodo und Frollo und runden zusammen mit dem Masken- und Perückendesign das Ganze stimmig ab.

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© VBW Deen van Meer

Die Partitur von Alan Menken mit den Liedtexten von Stephen Schwartz setzt sich aus berührenden Balladen („Draussen“, „Hilf den Verstoss’nen“, „Einmal“) und fetzigen Ensemblenummern wie „Der Klang von Notre Dame“, „Rhythmus meines Tamborins“, „Tavernenlied“ zusammen. Besonders intensiv und einzigartig sind alle Lieder mit Chor-Beteiligung und erzeugen Gänsehautmomente. Der Chor setzt sich zusammen aus 24 Sängern/Sängerinnen aus fünf professionellen Amateurchören aus einer Kooperation mit dem Chorverband Österreich. Einfach wunderbar.

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© VBW Deen van Meer

Bei den Darstellern haben die VBW das richtige Händchen bewiesen. Am effektivsten kann hier die Besetzung von David Jakobs als Quasimodo gelten, eine Rolle, die der Darsteller sich mit allen Fasern in den letzten fünf Jahren zu eigen gemacht hat. In der besuchten Vorstellung Anfang Dezember wurde Quasimodo vom jungen Holländer Thijs Snoek verkörpert. Die anfängliche Enttäuschung, nicht die Erstbesetzung erleben zu dürfen, wich rasch aufgrund der wirklich sehr guten Interpretation der anspruchsvollen Hauptrolle. Darstellerisch agiert er höchst anrührend und stimmlich überzeugt er ebenso völlig bis in die höchsten Endtöne in seinen großen Soli „Draußen“ und „Aus Stein“. Erst am Ende, als Quasimodo quasi aus der vierten Wand hervortritt, seinen aufgeschnallten Buckel abnimmt, sich aufrichtet und davon berichtet, dass man in den Katakomben von Notre Dame zwei ineinander verschlungene Skelette, nämlich die von Esmeralda und Quasimodo, gefunden hätte, nimmt man einen leichten Akzent bei ihm wahr. Während der ganzen Aufführung war das nicht der Fall.

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© Musical Reviews

Als klerikal fehlgeleiteter Kirchenmann und dieserhalb nahezu teuflischer Manipulator ist Andreas Lichtenberger in der Antagonisten-Rolle als Erzdiakon Frollo perfekt besetzt. Mit eindrücklicher physischer Präsenz und gesanglich vor allem in der zwingenden Arie „Das Feuer der Hölle“ kann er mit der ganzen Wucht des Chores und des fulminant aufspielenden Orchesters unter dem Dirigat von Michael Römer einen Schaudermoment erzeugen.

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Esmeralda wird von der zauberhaften Abla Alaoui sehr anmutig, aber auch als mutiger, für ihre Ansichten und Werte einstehender, Charakter interpretiert. Hier stimmt alles in der Darstellung: In Optik, Schauspiel, Tanz und Gesang weiß sie vollends zu überzeugen. Ihr Zusammenspiel mit den sie verehrenden Herren, einerseits der hoffnungslos reinen Herzens verliebte Quasimodo, andererseits der schneidige, attraktive Hauptmann Phoebus de Martin (wieder einmal eine sehr gute Wahl der VBW: Dominik Hees) und unheilvollerweise der Erzdiakon Frollo, der ihr übelst nachstellt, ist stets glaubwürdig.

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© VBW Deen van Meer

Als fünfte Hauptrolle im Stück ist mit Mathias Schlung der Zigeunerkönig Clopin Trouillefou ebenfalls passend besetzt. Das achtköpfige Ensemble ist nahezu permanent im Geschehen eingebunden und spielt, singt und tanzt vorzüglich.

Wie bereits angeführt, ist das opulente Orchester der Vereinigten Bühnen Wien wieder einmal ein absoluter Genuss, das die teils bombastische, teils zarte Partitur wunderbar umsetzt. Die Soundaussteuerung (Gareth Owen) lässt keine Wünsche offen, Textverständlichkeit ist zu jeder Zeit gegeben.

Neu in der Inszenierung und damit an zeitgemäße Erfordernisse angepasst ist, dass Frollo und Esmeralda teils in Gebärdensprache mit dem tauben Quasimodo kommunizieren. An einigen Stellen ist dies offenbar inszenatorisch nicht so ganz durchzuhalten und es verwundert, dass, wenn der Glöckner angesprochen wird, dieser – obwohl taub – reagiert und antwortet. Inhaltlich ist die Aussage des Stücks zum Thema Ausgrenzung aktueller denn je und vermag wohl gerade auch deshalb sehr zu berühren. Wenn am Ende der verzweifelte Quasimodo die tote Esmeralda in seinen Armen hält, kommen zahlreich im Publikum Taschentücher zum Einsatz.

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© VBW Deen van Meer

Fazit: Das Publikum im gefühlt ausverkauften Ronacher spendet zu Recht stehende Ovationen und zeigt sich völlig begeistert. Diese Show ist ein weiterer Fixpunkt im VBW-Spielplan und wird dem Ronacher sicherlich über längeren Zeitraum ein volles Haus bescheren.

Fotos vom Schlussapplaus, alle Rechte © Musical Reviews

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Silvia E. Loske, Dezember 2022